Zwischen Leben und Tod: Die vergessenen Wurzeln von Halloween



Samhain, das heutige Halloween ist in seinen Ursprüngen eigentlich kein Gruselfest, sondern der Wendepunkt im keltischen Jahr. Für die Bauern bedeutete dieser Tag damals: Jetzt wird es ernst. Die Ernte ist vorbei, das Vieh ist drin, die Felder geben nichts mehr her. Man schaut zurück auf das vergangene Jahr, zieht Bilanz, dankt für das Erhaltene und macht sich bewusst, dass nun eine Zeit kommt, in der man von dem leben muss, was man gesammelt hat. 

Genau deshalb war Samhain auch ein guter Moment, um den Toten zu gedenken. Wer vor uns war, ist Teil dieses Kreislaufs. Wer nicht mehr da ist, bleibt trotzdem in der Gemeinschaft anwesend. Aus dieser Sicht erklärt sich auch die Vorstellung, dass in dieser Nacht die "andere" Welt näher rückt. 

Wenn sich das Jahr wendet und das Helle dem Dunklen Platz macht, scheint es plausibel, dass auch die ansonsten feste Trennlinie zwischen Diesseits und Jenseits weicher und durchlässiger wird. Man entzündete Feuer, stellte Lichter auf und trug Masken, um in dieser Schwellenzeit Sicherheit zu schaffen. Die Menschen glaubten, dass in dieser Dunkelheit die Grenzen zwischen den Kräften des Lebens und des Todes verschwammen.

Die Rituale sollten das Gleichgewicht zwischen beiden wahren und Halt geben, wenn das alte Jahr endete und das neue noch nicht begonnen hatte. 

Feuer, Masken, Lichter 

Viele Elemente,die es auch heute noch gibt, hatten zur damaligen Zeit einge ganz nüchterne Funktion. Feuer etwa waren in spätkeltischen und frühmittelalterlichen Quellen mehr als nur dekorativ. Sie sollten schützen, reinigen, auch das Vieh „durch den Winter bringen“.

Lichter vor den Häusern oder auf Wegen machten deutlich: Dieses Haus ist bewohnt, hier ist die Gemeinschaft wachsam. In manchen Regionen wurden ausgehöhlte Rüben oder andere Wurzelgemüse mit einer Flamme versehen – eine sehr viel ältere Variante der heutigen Kürbislaterne. 

Der heute typische geschnitzte Kürbis ist im Grunde die amerikanische Fortsetzung dieses Brauchs, nur mit dem dort verfügbaren Gemüse. Auch Verkleidung hatte einen praktischen und symbolischen Kern. Wer sich unkenntlich machte, wollte nicht erkannt werden – weder von möglichen „Geistern“, die umhergehen, noch von Kräften, die man lieber nicht anlockte. 

Die spätere, spielerische Verkehrung – Kinder ziehen maskiert durch die Straßen und fordern etwas – ist eine volkstümliche Weiterentwicklung genau dieser Idee: In der Nacht des Übergangs gelten die Regeln nicht ganz wie sonst, Rollen werden getauscht, Oben und Unten kommen kurz durcheinander. Dass das heute „Süßes oder Saures“ heißt, ändert an diesem Grundmuster nichts.

Vom Ritual zum Brauch

Im Mittelalter wurden viele saisonale Bräuche nicht abgeschafft, sondern „umgetauft“. Ein heidnischer Jahreswechsel ließ sich schwer unterdrücken, aber er ließ sich theologisch umdeutten. Allerheiligen und Allerseelen fielen zeitlich genau auf diese Schwelle, an der ohnehin der Blick zu den Verstorbenen ging. 

Der Abend davor bekam dadurch eine neue Deutung, blieb aber als besonderer Zeitpunkt erhalten. Aus Samhain wurde der „Abend vor Allerheiligen“, aus dem „All Hallows’ Eve“ wurde im Englischen „Halloween“. Die eigentliche Beschleunigung des Wandels kam deutlich später, im 19. Jahrhundert, als irische und schottische Auswanderer ihre Bräuche nach Nordamerika mitnahmen. 

Dort stießen sie auf andere Volksbräuche, auf bürgerliche Festkultur, auf eine wachsende Unterhaltungsindustrie. Halloween wurde bunter, lauter, urbaner. Was in Europa ein eher ernster, lokaler, oft noch mit dem Friedhof verknüpfter Tag blieb, wurde in den USA zu einem populären, zugleich gruseligen und fröhlichen Herbstfest. Von dort aus trat es seinen Rückweg nach Europa an – diesmal in kommerzialisierter Form.

Was von Samhain übrig beibt

Trotz dieser vielen Schichten – keltischer Jahreswechsel, kirchliche Überformung, nordamerikanische Popularisierung – lässt sich eine Linie erkennen: Die Nacht steht für Übergang, für Durchlässigkeit und für Erinnerung. 

Wer heute bewusst feiert, knüpft oft daran an. Eine Kerze für Verstorbene, ein kleiner Platz mit Fotos, ein bewusstes „Danke“ für das, was gehen durfte – das hat nichts mit Esoterik zu tun, sondern mit Spiritualität. Die Nacht markiert einen Punkt im Jahr, an dem Abschied und Neubeginn eng zusammen fallen. 

Gerade deshalb greifen spirituelle oder naturreligiöse Gruppen Samhain wieder auf. Sie tun das in der Regel nicht, weil sie historische Kelt*innen nachspielen wollen. Der 31. Oktober markiert einen Wechsel: Die Natur zieht sich zurück, das Licht nimmt ab, der Mensch geht innerlich eher nach innen. Zeit um auch eine innere „Inventur“ zu machen, Belastendes loszulassen, sich der eigenen Ahnen zu vergewissern – es passt einfach in diese Jahreszeit.

Halloween: Zwischen Kommmerz und Spiritualität

Dass all das heute von blinkenden Dekoartikeln, Plastikspinnen und Horrorclowns überlagert wird, ist die andere Seite der Medaille. Moderne Gesellschaften haben den Tod weitgehend ausgelagert und verdrängt.

Gleichzeitig bleibt das Bedürfnis, sich wenigstens einmal im Jahr symbolisch mit Vergänglichkeit zu beschäftigen. Halloween liefert dafür eine akzeptierte Bühne: Man darf sich gruseln, ohne wirklich in Trauer zu sein. Man darf Tod darstellen, ohne an einen konkreten Verlust erinnert zu werden. Man darf die Grenze zum Jenseitigen spielerisch berühren. 

Darum verschwindet Halloween auch nicht wieder, obwohl es offenkundig kommerzialisiert ist. Es erfüllt eine Funktion. Es ist ein ungefährlicher Ort, an dem über das Unheimliche gesprochen werden darf. Außerdem trägt es – wenn man genauer hinschaut – noch immer jene leise Erinnerung in sich, dass wir nicht die Ersten sind und nicht die Letzten. Dass unser Leben eingebettet ist in eine Folge von Generationen. Dass es gut ist, denen vor uns Platz zu geben.


Samhain heute 

In vielen europäischen Regionen gibt es bis heute die Vorstellung, dass Verstorbene um diese Zeit „nach Hause schauen“. In manchen Häusern wird am Abend bewusst ein Gedeck mehr aufgelegt oder eine Kerze ins Fenster gestellt. Das ist keine mittelalterliche Romantik, sondern eine Fortführung dessen, was Samhain im Ursprung war: eine Geste der Gastfreundschaft gegenüber den Toten.

Man hält fest, dass sie zur Gemeinschaft gehören, auch wenn sie nicht mehr physisch da sind. Genau hier trifft sich die historische, die spirituelle und die psychologische Dimension. Wer seinen Toten einen Platz gibt, muss sie nicht verdrängen. Wer sich erinnert, muss sich nicht fürchten. Wer weiß, dass Leben aus Übergängen besteht, kann Veränderungen eher annehmen. Samhain – und damit auch Halloween – ist deshalb weniger ein Fest des Schreckens als ein Fest der Anerkennung: So ist der Lauf der Dinge.

Das Fest des Übergangs

Am Ende bleibt: Halloween ist nicht „eigentlich irisch“, „eigentlich amerikanisch“ oder „eigentlich heidnisch“. Es ist ein fest verwobenes Traditionsgeflecht aus keltischem Jahreswechsel, christlicher Umdeutung, volkstümlicher Weitergabe und moderner Popkultur. Gerade deshalb eignet es sich so gut, um jedes Jahr neu damit zu arbeiten. Wer nur feiern will, feiert. Wer sich erinnern will, erinnert. Wer loslassen will, nutzt die Nacht für ein kleines persönliches Ritual. In seinem Kern erzählt dieses Fest aber immer dasselbe: Alles, was lebt, geht durch Phasen. Helles Jahr und dunkles Jahr. Fülle und Rückzug. Nähe und Abschied. Samhain hat das benannt. Halloween erinnert uns – manchmal eher trotz, manchmal sogar mithilfe der Plastikdeko – noch immer daran. Und vielleicht ist genau das der Grund, warum wir es jedes Jahr wieder feiern.

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